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Die Geschichten: James Blackforest

11. Was zum Teufel ist Reduzierung oder Minimalismus?

Nach einer Woche geht es James wieder besser. Er liegt immer noch im Krankenhaus. Am liebsten würde er nach Hause gehen. Aber der Arzt ist dagegen. Das Bein schmerzt, der Kopf hat einen Verband.

„Ruhe Dich aus, James. Habe ein wenig Geduld!“, rät Frau Blinseltreu von der Kuckucksuhren Vertriebsgesellschaft Mittelbaden. Ebenso Claudia. Aber, das Liegen und Sitzen gefällt James nicht. Tageszeitungen sind langweilig geworden. Im Radio kommt immer das „selbe Zeug“. James hat sozusagen Langeweile. Es ist alles stupide und monoton. Sein Bettnachbar geht ihm auf dem „Keks“. Nachts schnarcht er fürchterlich und am Tag quasselt er unverständliche Worte. Oft spricht er mit Personen, die man nicht sieht. Dann sitzt er wieder aufrecht im Bett. Bohrt mit dem Finger in der Nase. Beim Frühstück zerbröselt er die Wecke (Semmeln) in kleine Teilchen und lässt diese auf dem Teller liegen und bestellt zwei neue. Die Krankenschwester meint, dass er bald entlassen wird. Dem James wäre es lieber, dass man ihn entlassen würde. James darf auch nicht im Krankenhaus spazieren gehen, denn sein Bein muss ruhen.

In Offenburg ist es sehr eisig. Claudia hat noch immer Urlaub. Angela geht wieder zur Schule. Dieses Jahr macht sie das Abitur. Robert kümmert sich um die Kuckucksuhren Vertriebsgesellschaft Mittelbaden in der Heinrich-Hertz-Straße. Er hat eine Liste von James, alles Arbeiten, die gemacht werden müssen. Dazu kommen noch Spezial-Aufträge von der Geschäftsführerin Frau Blinseltreu. Da muss er für die Mitarbeiterküche Kaffee, Tee, Milch und Zucker besorgen. Die Kuckucksuhren-Vertriebsgesellschaft hat keine Kantine, weil sie eben zu wenig Mitarbeiter hat. Aber eine Teeküche, wo eine große Espresso-Maschine steht, wo man auch kleine Speisen zubereiten kann. Es gibt einen Aufenthaltsraum mit Terrasse. Die Raucher dürfen nur draußen rauchen.

In der Hildastraße ist der Gehsteig eisig glatt. Claudia ist gerade beim Streuen, als ein weiblicher Passant ausrutscht, auf den Hintern knallt und die Handtasche wegrutscht. Claudia hilft ihr wieder auf die Füße. Sie riecht nach billigem Parfüm und Zigarettenqualm, hat Stöckelschuhe an, schwarze Strümpfe und eine Zigarette im Mund. Sie bedankt sich, schimpft aber, weil es so glatt ist.

„Ich arbeite in der 'Foxibar am Stadtbuckel' und hatte bis jetzt einen Gast“, berichtet sie angesäuselt. Erst jetzt sieht Claudia, dass sie künstliche schwarze Wimpern hat. Die Augen haben Ringe. Die Lippen sind Kirschrot geschminkt. Ihre Haare sind glatt gesträhnt und aus ihrem Mund kommt ein Sektkellereigeruch.
“Sind Sie eine Bardame?“, fragt Claudia.
„Nein Stripperin!“, kommt zur Antwort, „Das mache ich schon seit über zehn Jahren. Früher war ich Buchhalterin, als Kind besuchte ich eine Ballettschule, aber nach der Scheidung brauchte ich halt Geld. Und das einzige, was ich kann, ist tanzen.“

Die Dame geht weiter, an der nächste Ecke legt es sie wieder nieder auf den Boden. Claudia verkriecht sich im Hinterhof und muss zunächst mal herzlich lachen.
„Was man so am frühen Morgen alles erlebt…“

In dem Augenblick hört sie wieder etwas scheppern. Diesmal ist es der Zeitungsausträger, der neben seinem Fahrrad und den Zeitungen auf dem Boden liegt.
„Was ist denn das? Ich habe doch gerade eben gestreut!“ denkt Claudia.Der Zeitungsausträger rafft sich wieder in die Höhe und sagt: Heute ist es „arschglatt.“ Er stellt sein Fahrrad gegen die Hauswand. Dann sammelt er die herumliegenden Zeitungen ein, packt einen Stapel Zeitungen unter seinen Arm, schließt die Haustüre auf und verteilt die Zeitungen an den Wohnungstüren.

Claudia prüft den Gehweg vor dem Haus. „Es ist korrekt gestreut. Komisch, dass da dennoch Leute ausrutschen müssen.“ Nun bringt sie den Innenhof in Ordnung. Sie putzt noch das Treppenhaus im Rückgebäude. Im Fahrradraum tauscht sie noch eine Röhre aus. Von James hat sie gelernt, dass man auch den Starter mit austauschen muss.

Frau Guntelhild Weber ruft und winkt aus dem Küchenfenster. Claudia soll nach oben kommen. Sie steigt die Treppen nach oben zum dritten Obergeschoß. Auf der rechten Seite wohnt Frau Weber. Die Türe ist leicht angelehnt.

„Claudia, komm rein, der Kaffee ist fertig“, ruft Guntelhild. Claudia setzt sich an den Tisch. Guntelhild schenkt ihr und sich Kaffee ein. Es gibt frische Weckli und Gipfeli (Semmeln und Hörndl für die Bayern, Hörnchen für den Norden in Deutschland), Butter, Konfitüre und Käse. Man redet über Gott und die Welt und wie es glatt draußen ist.
„Dem James ist es sehr langweilig im Krankenhaus und er möchte unbedingt nach Hause und malen“, erzählt Claudia.
„Malt der James?“, hakt Guntelhild nach, eigentlich möchte sie noch mehr darüber erfahren.
“Nur so als Hobby“, berichtet Claudia, “ James hat in München einen Maler kennen gelernt, der den „Moshammer“ gemalt haben soll. Dann war er eine Weile Aufsicht in der Alten Pinakothek in München. James wollte schon immer malen, hat sich aber nicht so richtig getraut. Er hat oben in seinem Haus in Käfersberg ein kleines Atelier eingerichtet, wo er ab und zu malt. Ich kam darauf, damals als ich ihn zum ersten Mal besuchte, roch es nach Terpentinöl. James hat Angst, mich zu verlieren, wenn er malt. Ich weiß nicht, wo der den Unsinn her hat. Mich würde es freuen, wenn er fleißig malen und ausstellen würde, aber er sagt immer, was wohl die Leute dazu sagen würden.Ich bin der Meinung, das sich die Leute freuen würden “, erläutert Claudia.
„James ist nicht der typische Hausmeister, wie man Hausmeister eben kennt. Der macht seinen Job viel zu gut. Er kann es auch wunderbar mit den anderen Bewohnern im Haus und wird auch sehr geschätzt. Ich mag ihn, weil ich auch viel über Kultur und Kunst reden kann“, ergänzt Gundelhild.

Zur gleicher Zeit im Krankenhaus: James sitzt aufrecht in seinem Bett. Sein Bettnachbar jagt gerade mit den Händen nach unsichtbaren Fliegen und spricht mit ihnen. Auf James Schoß liegt ein Schreibblock, in der rechten Hand hält er einen Kugelschreiber. Er beginnt zu schreiben:

“Ich sitze da
Und denke an nichts.
Ein paar Worte möchte ich schreiben.
Mir fällt nichts ein,
Nichts ums verrecken!
Wo mögen die Worte sein?
Jetzt, wo ich sie brauche
Kommt nichts verdammt!
Was mach ich jetzt?
Ich schreibe halt nichts.
Nichts wird hier zu lesen sein.
Ach, was wollt ich denn sagen?
Und was ich noch schreiben wollte,
Warten sie, es kommt gleich.
Da war doch, genau das,
Genau das wollt ich sagen.
Die Worte fehlen mir.
Aber, sie wissen genau was ich meine!
Es war was, das ich ihnen schon lange sagen wollte.
Nur das Ganze in Worte zu fassen,
Und dazu auch die richtigen Worte zu finden.
Und auch in der richtigen Zeit.
Das Leben ist so doch schwierig,
Wenn man es kompliziert macht.
Die Wörter in der richtigen Reihenfolge zu bringen.
Und im richtigen Rhythmus.
Was ich wohl hier verkehrt mache?“

Sein Bettnachbar liegt nun unter dem Bett, quietscht und quasselt mit jemand, der ein Zwerg sein soll. Die Krankenschwester kommt in den Raum. Sie bittet ihn, in sein Bett zurück zu gehen. Er verabschiedet sich von dem Zwerg und besteigt sein Bett. Nun betet er das „Vater unser“!

„James kann ich etwas für Dich tun?“, fragt die Krankenschwester.
„Ja, ich möchte wieder nach Hause, zumindest in einen anderen Raum. Gell, ich bin im Offenburger Krankenhaus und nicht in einer „geschlossenen Anstalt?“, so James.
„Dein Bettnachbar hatte vor drei Jahren einen schweren Motorradunfall, seitdem hat sein Kopf Beschwerden. Er war früher ein Deutschlehrer auf der Berufsaufbauschule und bezieht jetzt eine Rente. Er kommt wegen der Beschwerden zweimal im Jahr ins Krankenhaus. Es ist viel besser mit ihm geworden. Er darf morgen nach Hause, wenn die Laborergebnisse gut sind. James, habe ein wenig Geduld. Dein Bein muss ruhen, wenn du es später ohne Schmerzen nutzen willst. Du darfst eh nächste Woche nach Hause“, erklärt ihm Krankenschwester Maria.

Zur gleichen Zeit wieder in der Küche von Guntelhild:
„Du Claudia, ich glaube, wir Frauen sollen es selbst in die Hand nehmen. Wenn wir für James noch weitere Hausmeisterobjekte finden würden, könnten Du und Robert weiterhin, aber hauptamtlich Hausmeisterarbeiten verrichten und James hätte sozusagen viel mehr Zeit zum Malen. Ich könnte dann die Buchhaltung machen. Da hätten alle was davon,“ sagt Guntelhild.
„Wow, das ist eine gute Idee! Ich werde heute noch mit James reden. Er muss uns beide allerdings noch gut anlernen. Es gibt einiges, was ich nicht kann und Robert nicht weiß. Man darf nicht vergessen, James hat Betriebsschlosser gelernt und kommt aus einem Bauernhof und wurde durch einen Profihausmeister angelernt“, so Claudia.

James hängt immer noch über seinem Schreibblock:

Noch mein letzter Versuch!
Es sind leere Worte.
Sehr traurige
oder nicht.
Es ist
Etwas
Der Anfang von
Etwas neuem, woanders,
Im neuen Kleid!
Blackforest

Er macht einen dicken Strich darunter. Die Zeit wird nun kurzweiliger. Und ein weiterer Text entsteht:

denken

ich sitze da und denke
denke und sitze da
denke mehr und mehr noch denken

ein Gedicht

die Leute werden denken

Dann kommt eine weiteres, wie man sieht, meidet er Großbuchstaben:


über wissen

ich weiß, dass ich nichts weiß,
ich nicht wissen, bevor ich weiß,
ich alles wissen, aber nichts weiß.

Nun kommt das Mittagessen. Es gibt Hühnerfleisch und Reis und einen Schokoladenpudding. Hinterher bestellt er sich einen Kaffee. Claudia kommt zur Tür rein. „Hallo James“, und gibt ihm einen Kuss auf den Mund. Sie sprechen über die betriebliche Erweiterung seiner Hausmeisterei. James ist begeistert. Claudia bleibt fast bis zum Abend und vertreibt James sozusagen die Langweile. Begeistert sprechen sie über dieses und jenes. Zum Abendessen gibt es „Straßburger Wurstsalat“. Hinterher bestellt James eine Tageszeitung. Sein Bettnachbar spielt nun Luftgitarre! Bei Kultur findet James einen für ihn sehr interessanten Aufsatz über den Schriftsteller und Minimalist Robert Lax.

Er liest das Wort Reduzierung. Es geht um Minimalismus. Aber was zum Teufel ist denn Minimalismus? Er liest noch ein Stückchen. Die Worte sagen ihm nichts mehr, als wären sie leer. Er nimmt ein Wörterbuch zu Hand. Dort steht über das Reduzieren:

“ ...2. auf eine einfachere Form zurückführen, vereinfachen: etw. auf seine Grundelemente.“ Bei „Minimal-Art“ steht: “..auch Minimalart, die:- (engl. Minimal art, aus: minimal = gering u. art = Kunst) (Kunstwiss.): Kunstrichtung in der USA, die mit einfachen (geometrischen) Grundformen arbeitet.“

Nun weiß der James mehr. Er liest in der Zeitung weiter:

„Wenn ich versuche, auszudrücken, was der Mensch, der in mir steckt und seinen Weg durchs Leben sucht, denkt, benütze ich besser klare, einfache, leicht verständliche Worte und keine zweideutigen. Also versuche ich, wenige klare Worte zu finden. Wenn ich kann, arbeite ich mit klaren Worten, Rhythmus und mit Bildern, und mit was immer sie an metaphorischer Bedeutung mitbringen:
rot,
blau,
und wenn ich noch mehr Worte brauche, dann suche ich sie im selben Korb und finde weiß und schwarz, hell und dunkel.“

 

James denkt und viele Gedanken kreisen in seinem Kopf. Nun beginnt er zu ordnen, indem er seinen Stift und Schreibblock nimmt. Es sind Geschichten, Kurzgeschichten, die er jetzt schreibt:

I.
Feuer
Wasser
aus

II.
Baum
fällen
pflanzen
neue

III.
Ei
Kücken
Hahn
Hähnchen
hmmm!

IV.
mann
kickt
ball
ins
tor
mann
schaut
dumm

 

Gedicht:

ein
aus


Leben

aufblühen
blühen
gedeihen
verblühen

James schreibt und schreibt. Die Nacht ist bereits eingetroffen. Sein Nachbar schläft. Man hört es an den Geräuschen. James legt sein „Werkzeug“ zur Seite, macht das Licht aus und schläft ein. Er träumt von einem neuen Anfang im neuen Kleid!

Weiter geht es mit der nächsten Geschichte:
"James räumt auf!"

25.01.2006

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